Wie ich anfing kalt zu duschen - oder: Über den Zauber Alexandrischen Innehaltens
- Hendrik
- 21. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Seit Beginn des Ukrainekriegs dusche ich jeden Tag kalt. Es fing an als kleiner täglicher Akt der Solidarität und des Mitgefühls: fossiles, russisches Gas einsparen, ein klein wenig das Gleiche durchleben, was die Menschen in der Ukraine erlebten, wenn die Kraftwerke zerbombt wurden. Im Prinzip war ich auch der Meinung, dass es meiner allgemeinen Gesundheit gut tun könnte.
Im ersten Jahr hat mich da vor allem meine innere Überzeugung getragen. In den Frühlings- und Sommermonaten da fällt mir kalt duschen auch ziemlich leicht, im Winter allerdings, ist das Wasser bei uns ordentlich kalt, so kalt dass Haare waschen sich fast wie eine örtliche Betäubung anfühlt. Es kostete viel Überwindung.
Ich versuche mich nicht extra zu quälen oder glaube auch, dass es weh tun muss, damit es etwas bringt. Ich bin nicht besonders ehrgeizig beim “Durchziehen extremer challenges”. Mich interessiert eher wie es einfacher und leichter sein kann, etwas zu tun, von dem ich theoretisch weiß, dass es gut für mich ist, aber wo ein innerer Schweinehund etwas dagegen hat. Ich finde es interessanter den eigenen Spielraum zu erweitern statt über die eigenen Grenzen zu gehen, nachhaltig mehr Möglichkeiten zu schaffen, vor allem in Situationen, wo es scheinbar keine Alternative gibt. Das macht meine kalten Duschen zu einem interessierten Testfeld für Alexanders Arbeit.
Als sich andeutete, dass der Krieg leider andauern wird, dachte ich mir, ich muss meine Strategie ändern.
Seitdem nehme ich mir bewusst einen Moment der Stille unter der Dusche.
Ich halte meinen Kältetanz aus hektischen, drehenden Bewegungen und schnellen, flachen Atemstößen bewusst an, entscheide stattdessen ruhig unter dem Wasserstrahl stehen zu bleiben und schaue was passiert. Denn dann geschieht das eigentlich Erstaunliche: Der Atem wird langsamer und die angespannten Muskeln lösen. Nach wenigen Augenblicken fühlt sich das Wasser nicht mehr eisig an, sondern angenehm frisch.
Es ist jedes Mal aufs Neue ein überraschender Effekt und ein gutes Antistressmittel. Halb bewusst bleibt da die Erinnerung an das Duscherlebnis: Wenn ich diese kalte Dusche überstanden habe, dann kann mich auch alles andere an diesem Tag nicht mehr so leicht aus der Bahn werfen.
Wenn ich morgens in die Dusche steige, habe ich nicht mehr so sehr den Kältestress vor Augen, sondern ich erwarte diese angenehme Gefühl von Gelöstheit und Frische nach der anfänglichen Überwindung. Ich steige mit der sicheren Erwartung einer “Belohnung” in die Dusche und das macht es bedeutend leichter.
Der Moment, wenn ich bewusst anhalte unter der Dusche, nennt sich in der Alexander-Welt als inhibition (Innehalten). Ich stoppe bewusst meine automatische Reaktion auf das kalte Wasser, das gestresste Prusten und atemlose Hyperventilieren unter dem Wasserstrahl. Ich halte dabei nicht einfach nur an. Ich spreche innerlich ein konstruktives Nein zu meiner Verhaltensweise aus um ein anderes Ja zu erlauben: alles wird ruhiger, das Wasser fühlt sich nicht mehr unerträglich kalt an, sondern angenehm frisch.
Für mich ist das ein Beispiel für die vielen kleinen und großen Moment im Alltag, wenn Ähnliches passiert. Oft fühlt sich das eigene Verhalten seltsam alternativlos an, als ginge es nicht anders - so wie es sich vollkommen normal, richtig und logisch anfühlt unter dem kalten Wasser hektisch zu stressen. Doch oft gibt es noch eine andere Wahl, mehr Spielraum als vielleicht auf den ersten Blick sichtbar ist: nämlich immer dann, wenn ich nicht mehr fremdbestimmt von meinen Automatismen und Mustern unterwegs bin, sondern selbstbestimmt in einem lichten Moment der Bewusstheit in Einklang komme mit meinen tatsächlichen Bedürfnissen und was gerade in dieser Situation angemessen und möglich ist.
Wichtig für das Alexandrische Innehalten:
Ich muss nicht tatsächlich anhalten und still stehen oder alles langsam machen, obwohl das am Anfang vielleicht manchmal hilfreich sein kann. Ich halte inne auf neurologischer Ebene, ich stoppe die Verhaltensweise an der Quelle, am Auslöser.
“Im Kopf” möchte ich dann diesen winzigen Moment der Stille erlauben, aus dem etwas Anderes entstehen kann. Den Stress der Anspannung aus dem Körper zu nehmen ist eine große Hilfe dabei.
Und wie das geht “in Action” ist eine Kunst für sich, die einen großen Teil des Alexander-Lernprozesses ausmacht.
Ich löse mich von dem Ziel, dass es nicht mehr kalt sein soll.
Der prustende Ringeltanz unter der Dusche drückt ja eigentlich aus: “Ich möchte, dass es vorbei ist. Ich möchte nicht mehr das unangenehme Gefühl der Kälte haben.”
Wenn ich Innehalte dann habe ich eine Absicht, eine Intention. Ich schaffe die Bedingungen, dafür, dass sie sich erfüllen kann, ich unternehme die notwendigen Schritte. Das wäre hier beim Beispiel Duschen ich erlaube bewusst mehr innere Stille und stoppe meinen Kältetanz. Und dann warte ich. Ich lasse los. Ich löse mich bewusst vom gewünschten Ergebnis. Ich trenne diesen Prozess vom Resultat. Ich habe meine Angel in den Ozean der unendlichen Möglichkeiten ausgeworfen und lasse mich überraschen, welchen Fisch ich fange.
Ich habe keine vorgebildete Meinung, Präferenz, Erwartung wie die Lösung aussehen muss. Ich lasse mich überraschen. Das ist ein wesentliches Element Alexandrischen Innehaltens. Ich öffne mich für die Vielzahl anderer Möglichkeiten, in dem Vertrauen, dass sich das “Richtige von allein tut”, weil ich das Falsche lasse - wie F.M. Alexander schrieb. Und erstaunlicher Weise passiert das mit konstanter Regelmäßigkeit.
Es ist immer wieder ein kleines Wunder, das leicht übersehen wird, weil es so “normal” daherkommt.
Eben noch atemlos gestresst unter dem Wasserstrahl, alles schreit innerlich “Weg hier!!!” und im nächsten Moment: angenehm frisch, innerlich ruhig. Alexandrische inhibition ist ein einfacher, bodenständiger Prozess, hat aber immer wieder magische Wirkungen in den verschiedensten Situationen.
“There is another world, but it ist within us.” William Butler Yeats
"Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in uns." Diesen Satz habe ich oft gehört während meiner Ausbildung. Und er beschreibt auch ganz gut, wie sich Alexandrische inhibition anfühlt. Ich würde vielleicht sagen. Es gibt viele andere Welten und jeder Moment dieser inneren Stille des Innehaltens macht unsichtbare Türen zu diesen Welten sichtbar und aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten, wählt sich dein besseres Selbst wie von allein die Richtige aus.
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