Der Kompass des inneren Autopiloten
- Hendrik
- Oct 8
- 5 min read
Was meine Verhaltensweisen unbewusst lenkt oder: was wenn das Gefühl täuscht?

Das Verhalten von Lebewesen wird von einer einfachen Unterscheidung gelenkt: Was angenehm ist, zieht uns an; was unangenehm ist, meiden wir. Wissenschaftler haben diese Art der Verhaltenssteuerung unter anderem bei Meeresschnecken beobachtet – Tieren mit dem bislang einfachsten bekannten Nervensystem.
„…Einzellige Organismen haben einfache, binäre Überlebensmechanismen: sich auf Nährstoffe zubewegen, sich von Giftstoffen wegbewegen.“
Judson Brewer, “The craving mind”
Nahrung ist gut und zieht an. Gift fühlt sich schlecht an, das wird vermieden. Meeresschnecken nutzen die Unterscheidung von "fühlt sich gut an", "fühlt sich schlecht an", um Erinnerungen anzulegen, also Verhalten zu lernen. Dieses Prinzip hat sich in der Evolution so gut bewährt, dass von einfachen bis zu sogenannten “höheren” Lebewesen immer wieder übernommen und verfeinert wird und als “Lebensweisheit” dient.
Es gilt auch für uns. Süßes zieht an, Auspuffabgase stoßen ab. Lob fühlt sich gut an, Kritik fühlt sich schlecht an. Unsere Überlebensmechanismen komplexe Verhaltensstrategien, etwa um das zu machen, was Lob verspricht und zu vermeiden, was Kritik nach sich zieht.
Dieses Gefühl ist wie eine Art Kompass für den inneren Autopiloten - eine Orientierungshilfe für die innere Fernsteuerung, die uns durch das Leben leitet.
Allerdings hat dieser Kompass eine Schwachstelle.
Er ist nicht darauf geeicht, was tatsächlich richtig und gut oder schlecht und falsch.
Stattdessen bildet dieser Kompass unsere angewöhnten Vorlieben, Vorpägungen und Voreingenommenheiten ab, also nicht was richtig ist, sondern was sich richtig anfühlt, nicht was schlecht ist, sondern was sich schlecht und falsch anfühlt. Das macht uns anfällig für Illusionen und Selbsttäuschungen, die schwerwiegende Folgen haben können.
Zum Beispiel:
Zucker ist an sich ein Nahrungsmittel gut und fühlt sich wohl für die gut an. (Schokolade, Kuchen, Nachtisch…) Doch ein Zuviel an Zucker wirkt gesundheitsschädlich, ist also objektiv schlecht und trotzdem zieht uns Süßes an, weil es sich gut anfühlt.
Philosophischer ausgedrückt, der Kompass ist so von der Natur beschaffen. Denn uns interessiert weniger die objektive Realität als was sie mit uns macht, was wir mit ihr machen können. Deshalb nehmen wir vielleicht die Realität nicht so wahr wie sie ist. Für mich als Lebewesen sind die enormen Räume und Abstände zwischen den Atomen weniger relevant. Wenn ich einen Tisch ansehe, will ich eine physische Gestalt sehen, weil es weh tut, wenn ich dagegen renne.
Für F.M. Alexander war es ein wichtiger Aha-Moment zu erkennen, dass seine Verhaltensweisen, sein eigener Gebrauchs instinktiv geleitet werden. Denn diese instinktive Führung, instinctive direction wie er schrieb, führte dazu, dass er unmerklich immer wieder Verhaltensweisen reproduzierte, die zu Stimmproblemen und Heiserkeit bei seinen Auftritten auf der Bühne führten. Und er erkannte, dass er das quasi gegen seinen Willen machte, eben weil es sich “normal” und “richtig”, sprich "gut", anfühlte.
Er stellt fest, dass das unzuverlässige Gefühl ein universales Problem ist, das uns allen auf vielfältige Weise zu schaffen macht.
Zum Beispiel: So wie du stehst. Das ist “gefühlt richtig”, also normal, vertraut. Und deshalb nimmst du immer wieder die gleiche Haltung ein beim Stehen. In den allerwenigsten Fällen ist es nicht tatsächlich "richtig", also so wie die Natur es für den Körperbau und die Aufrichtung vorgesehen hat. Bei den meisten Menschen ist das Stehen mit zuviel Aufwand und Anspannung verbunden, eine Mischung aus zu viel und zu wenig Muskelspannung in den verschiedenen Körperteilen. Das bedeutet weniger Beweglichkeit in den Gelenken, weniger Stabilität und Balance, weniger Anmut als möglich.
Wie ich stehe, habe ich im Gefühl. Es fühlt sich normal und richtig an. Was wenn das Gefühl täuscht?
Diese Illusion ist hochgradig unbewusst und ich glaube es erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe. In Alexander-Sitzungen nehmen wir oft einen Spiegel zu Hilfe oder machen vorher/ nachher Fotos um den Unterschied zwischen richtig und gefühlt richtig zu verdeutlichen.

Stehen ist nur ein einfaches Beispiel, für das, was du alles "im Gefühl" hast.
Eine unglaubliche Vielfalt an Verhaltensweisen wird durch diesen Kompass gelenkt.
Wie du dich in einen Stuhl setzt und wieder aufstehst, hast du im Gefühl.
Wenn du deinem Gegenüber ins Gesicht schaust, hast du im Gefühl, wie sich dieser Mensch gerade fühlt und was er denkt.
Alles was instinktiv, intuitiv, impulsiv, gewohnheitsmäßig abläuft, hast du “im Gefühl”.
Das kann sein: Wie du ein Auto ausparkst, welche Gedankengänge du bevorzugst, wie du auf Kritik reagierst, wie du politische Ereignisse bewertest, was du gerne isst und trinkst, wie du auf Werbung bei Facebook, Instagram oder im Fernsehen reagierst.
Die instinktive Lenkung (instinctive direction) durch das Gefühl bestimmt, wie dich dein Autopilot auf beliebige Reize reagieren lässt.
Was wenn das Gefühl täuscht?
Dann spannst du buchstäblich zuviel an beim Stehen, selbst wenn es weh tut, zu unangenehmen Verspannungen führt oder gar Beschwerden wie chronischem Rücken-, Nacken- oder Knieschmerz.
Dann möchtest du Süßes essen, selbst wenn dein Verstand weiß, dass es dick macht.
Dann bist du anfällig für Manipulierungen von außen und von innen durch Gewohnheiten.
Sobald deine “Knöpfchen” gedrückt werden, spulen deine Automatismen ab, stereotype Verhaltensweisen, die nicht der Situation angemessen sind und nicht deinen tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen. Sie können sich in der Folge gesundheitsschädigend und leistungsmindernd auswirken, weil sie dein “Funktionieren” beeinträchtigen, so dass du nicht dein wahres Potenzial entfalten kannst.
Die Probleme mit der instinktiven Lenkung (instinctive direction) - das ist der Gegenstand der Alexander-Arbeit.
Alexanders Arbeit bietet die Möglichkeit diesen inneren Kompass neu zu eichen, so dass das Gefühl nicht mehr täuscht, sondern mich verlässlicher leitet.
Bewusstheit dient dabei als Kontrastmittel. Sie macht sichtbar, wie mich ein täuschendes Gefühl wie eine unsichtbare Meeresströmung auf den immer gleichen Bahnen halten will.

Das Problem beim Stehen ist nicht nur im Körper. Das Problem ist nicht die Haltung, sie ist nur Ausdruck des Problems mit der instinktiven (unbewussten) Führung durch ein täuschendes Gefühl. Wenn ich genauer spüre, was ich tue und mich so von meinen Selbsttäuschungen befreie, dann öffnen sich neue Möglichkeiten:
“Das Richtige tut sich von allein, wenn ich das Falsche lasse.”
F.M. Alexander
Richtige Aufrichtung macht sich "von selbst", wenn ich das Gefühl neu eiche.
Anders ausgedrückt: Wie lange brauche ich um Haltungen und Bewegungen nachhaltig zu verändern? Bis der Kompass des Autopiloten neu kalibriert ist.
Ein stimmiger Kompass entfaltet unsere Gaben und Stärken auf überraschende Arten und Weisen.
Es stärkt deine "Gefühltspower": deine Intuition, dein Einfühlungsvermögen, deine Wahrnehmungsfähigkeit - deine innere Weisheit.
Es bringt dich besser in Kontakt mit deinen tatsächlichen Bedürfnissen, gibt dir ein besseres Gespür dafür, was notwendig und möglich ist, in beliebigen Situationen deines Lebens.
Es ist ein notwendiger Schritt um “hausgemachte” Schmerzen und Beschwerden zu überwinden. (Oft ist uns gar nicht bewusst, wieviel davon “hausgemacht” ist.)
Und es lässt dich in der Ausübung deiner Talente und deiner alltägliche Handlungen wirklich Neues und Unbekanntes entdecken statt immer Altbekanntes zu wiederholen - egal ob du singst, vor Menschen sprichst, reitest, mit jemandem tanzt oder vom einem Stuhl aufstehst - die kannst es tun wie nie zuvor.
"So habe ich noch nie gestanden, gesungen, getanzt, Trompete gespielt..." So war ich noch nie in Kontakt mit meinem Pferd, so bin ich noch nie aufgestanden, so bin ich noch nie gegangen..."
All das sind Sätze, die ich schon oft im Kontext der Alexander-Arbeit gehört habe.
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